Stärke statt Macht:„Neue Autorität“ im System Schule

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Thema SchuleSchulsozialarbeit

von Barbara Brecht-Hadraschek

Im Gespräch mit Stephan Fischer, Schulsozialarbeiter an der Wedding-Grundschule
Im Gespräch mit Stephan Fischer, Schulsozialarbeiter an der Wedding-Grundschule

An der Wedding-Grundschule ist die Grundphilosophie der „Neuen Autorität“ mittlerweile im Schulprogramm verankert. „Neue Autorität“ im System Schule: Das klingt erst einmal recht martialisch. Der Begriff hat jedoch nichts mit einer wieder entdeckten preußischen Unterrichtsmethode zu tun. Vielmehr baut das Konzept auf der Methodik und den Ideen des Gewaltlosen Widerstandes von Mahatma Gandhi und Martin Luther King auf. Angestoßen und begleitet hat diese Entwicklung an der Wedding-Grundschule Stefan Fischer, seit 2011 Schulsozialarbeiter für die tandem BTL. In einem Interview gibt er einen Einblick in das Thema.

Der Sozialpädagoge Stefan Fischer beschäftigt sich schon seit Mitte der 2000er Jahre mit dem Thema „Neue Autorität“. Er implementiert seit 2012 das Konzept gemeinsam mit seinen Kolleg*innen und der Schulleitung peu à peu an der Wedding-Grundschule und ist seit 2015 Systemischer Coach für Neue Autorität (SyNA®). Mittlerweile gab es einen bundesweiten Fachtag, einen Halbstudientag und einen Studientag zum Thema sowie eine Fortbildungsreihe für die pädagogischen Fachkräfte, die seit 2014 regelmäßig und kontinuierlich fortgeführt wird. Auch die Erzieher*innen in der Ergänzenden Förderung und Betreuung (EFöB) tauschen sich einmal im Monat dazu aus. Außerdem ist die Grundphilosophie der „Neuen Autorität“ mittlerweile im Schulprogramm verankert.

Woher kommt das Konzept der „Neuen Autorität“? Können Sie das kurz erklären?

Haim Omer, Professor für Klinische Psychologie an der Universität Tel Aviv, hat das Konzept der „Neuen Autorität“ entwickelt, das zu einem großen Teil auf der Idee, Methodik und der sozialpolitischen Idee des Gewaltlosen Widerstandes von Mahatma Gandhi und Martin Luther King aufbaut. In Deutschland wurde es zunächst von Arist von Schlippe aufgegriffen und verbreitet und dann durch Bruno Körner und Martin Lemme mit einem systemischen Ansatz weiterentwickelt. Grundsätzlich ist das Konzept als Haltung zu verstehen, die durch Transparenz und die Bereitschaft, sich intensiv und demonstrativ auseinanderzusetzen, eine tragfähige Beziehung schafft zwischen Erwachsenen und Kind. Ursprünglich war es für die Arbeit mit Familien gedacht, in denen die Eltern ihre Präsenz verloren haben und es immer wieder in konfliktträchtigen Situationen zu hoch eskalierten Momenten gekommen war. Seit einigen Jahren wird es auch in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und in Schulen gelebt.

Sie arbeiten ja schon einige Zeit mit der „Neuen Autorität“ auch an dieser Schule. Um was geht es konkret?

Grundsätzlich setzt das Programm bei den Erwachsenen an. Es ist ein Empowerment für Erwachsene. Sie sollen in der Handlung bleiben, in der Präsenz, in der wertschätzenden Kommunikation. Ziel ist die Sicherung der Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen. Es geht immer darum, beharrlich und „da“ zu sein, Interesse zu haben und gewaltfrei zu handeln.  Durch die aus dem Konzept hergeleiteten Interventionsmöglichkeiten kann die verlorengegangene Präsenz wiederhergestellt und damit auch die Bindung erneuert oder neu aufgebaut werden.

Anhand eines transparenten Vorgehens, der Methoden des Gewaltlosen Widerstandes und der Nutzung eines Unterstützernetzwerkes (Kolleg*innen, andere Pädagog*innen, Eltern etc.)  lernen wir entstandene Eskalationsprozesse zu erkennen, aus diesen auszusteigen und deeskalierend und beziehungsfördernd zu agieren, um neue Möglichkeiten einer tragfähigen Beziehung und Bindung zu entwickeln. Ganz wichtig ist dabei die Erkenntnis:  „Ich muss es nicht allein schaffen. Ich erlebe es als Stärke, Unterstützung zu bekommen.“

Neben der Präsenz ist außerdem die „Wachsame Sorge“ ein zentrales Element der „Neuen Autorität“.  Dabei geht es darum,  den "Finger am Puls" zu halten, ohne ständig zu kontrollieren. Wir pendeln dabei zwischen drei Stufen:  Läuft alles gut, ist eine "offene Aufmerksamkeit" ausreichend. Sie signalisiert dem Kind: Wir sind interessiert an dir. Werden Warnsignale (besorgniserregende Verhaltensweisen) wahrgenommen, ist eine "fokussierte Aufmerksamkeit" nötig. Das heißt, wir fragen bei einer/m Kolleg*in nach: „Wie hast du das gerade erlebt? Ich mache mir gerade Sorgen.“ Erst in einer dritten Stufe kommen einseitige Maßnahmen und „gewaltfreier“ Widerstand zum Tragen. Das können eine Ankündigung, ein Sit-in, eine Telefonrunde sein. Auch Wiedergutmachungsprozesse können angestoßen werden, all das, was Erwachsene tun können, um in der Handlung zu bleiben, um präsent zu bleiben und nicht in die Vergeltung und den Aufbau von Feindseligkeiten zu gehen.  

Wir müssen das „richtige“ Instrumentarium übrigens auch nicht gleich zur Hand haben. Das ist auch ein ganz wichtiger Aspekt. Ganz im Sinne von „Wir schmieden das Eisen, wenn es kalt ist“ kann eine verzögerte Reaktion deeskalierend wirken. Wir sagen dann nur: „Ich habe gerade gesehen, was du gemacht hast. Ich habe noch keine Idee, was ich tue, aber ich komme auf dich zurück.“ Wir müssen es dann natürlich auch machen.

Was löst das bei den Kindern aus?

Niklas Luhmann hat mal gesagt „Vertrauen ist die Bereitschaft, das Risiko einzugehen, dem anderen eine gute Absicht zu unterstellen.“ Und dieses Vertrauen, das man anderen gibt, und die Fürsorge, die man gibt, führen zu einer Selbstfürsorge.  Ein Beispiel aus unserer Schule: Wir hatten an der Wedding Schule mit Vandalismus zu tun. Toilettenkästen waren abgetreten, es gab Schmierereien, Mensastühle wurden heruntergeschmissen, solche Sachen. Es war nicht klar, wo das herkommt, aber es war besonders auffällig. Wir haben dann eine Ankündigung  für das Schulgebäude geschrieben. Da stand in etwa (gekürzt): „Unser Schulgebäude ist uns wichtig. Wir haben dies und jenes beobachtet und wir tolerieren das nicht,  wir werden folgende Schritte tun. Und wir tun das, weil das unsere Pflicht ist, weil wir ein schönes Schulgebäude haben wollen.“ Wir haben das überall in der Schule aufgehängt. Und die Kinder reagierten so zwischen “Wer macht  denn sowas?“ und „Oh Gott“. Wir haben in die Ankündigung nicht hineingeschrieben, was wir erwarten, sondern nur, was wir tun werden. Und da, wo der Kontakt zu den Lehrer*innen/Erzieher*innen gut war, haben sich die Kinder geöffnet. Sie machten dann darauf aufmerksam, dass da ein Wasserhahn läuft, hier eine Tür offen ist, in der Toilette nicht gespült wurde. Unsere Fürsorgepflicht führte zu einer Art Selbstfürsorge, so dass die Kinder, ohne dass von ihnen etwas erwartet wurde, vertrauensvoll in den Kontakt getreten sind. Wir haben natürlich nicht herausbekommen, wer das war, aber der Vandalismus reduzierte sich fast auf Null.

Entlastet das die Pädagog*innen? Was können Sie da beobachten?

Wir haben gemerkt, dass gerade Menschen, die sich in kritischen Situationen hilflos und ohnmächtig fühlen, dann wissen, ich kann da jemand ansprechen und um Unterstützung bitten –  und das wird als unheimlich bereichernd und gewinnbringend angesehen. Und dieses Gefühl von „Ich bin nicht allein und ich kann jemand ansprechen“ kann meine Präsenz positiv verändern. Ich kann ganz anders vor die Klasse treten und mich ganz anders aufrichten. Das Konzept der „Neuen Autorität“ kann einfach  eine  Möglichkeit sein, sein Repertoire zu erweitern, um Zugang zu Menschen zu finden und Beziehung und Kontakt herzustellen.

Lieber Herr Fischer, wir danken für das Gespräch.

An der Wedding-Grundschule sind wir aktiv in der Schulsozialarbeit, in der Ergänzenden Förderung und Betreung und mit temporären Lerngruppen. Alle Ansprechpartner*innen finden Sie auf der tandem-Seite der Wedding-Grundschule.

Dieses Interview erschien bereits im tandem MAGAZIN 3/2018.


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